M. Guthörl: Die Mathematik des Sozialstaats

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Titel
Die Mathematik des Sozialstaats. Internationale Expertennetzwerke der sozialen Sicherheit 1930-1980


Autor(en)
Guthörl, Milena
Erschienen
Göttingen 2021: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
214 S.
Preis
€ 40,00
von
Nadja Ramsauer

Die Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organization, ILO) verhalf dem Thema der sozialen Sicherheit in der Nachkriegszeit zu einem festen Platz innerhalb der westlich geprägten internationalen Ordnung. Die ILO verband Pazifismus und Wissenschaft miteinander. Sie verabschiedete 1952 ein internationales Abkommen, das soziale Sicherheit als menschliches Grundrecht definierte, und von 50 Mitgliedstaaten ratifiziert wurde. Mit diesem Übereinkommen und der zunehmenden Bedeutung expertenschaftlicher Netzwerke begann die international koordinierte Sozialpolitik. Die Autorin fragt danach, wie internationale sozialstaatliche Standards etabliert wurden und welche Rolle Expertengruppen dabei spielten.

Eine zentrale Rolle nahmen seit den 1920er Jahren die Versicherungsmathematiker ein. Sie waren mehrheitlich für nationale Sozialversicherungsbehörden und Universitäten tätig, erarbeiteten aber gleichzeitig die internationalen Standards der sozialen Sicherheit und gewährleisteten in ihren Netzwerken den Transfer des erarbeiteten Wissens. Besonders rege war der Ausbau der sozialen Sicherheit während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den liberalen Demokratien des Westens. Die personellen Vernetzungen der Experten führten darüber hinaus dazu, dass sich die Standards dank der Bemühungen der ILO in Entwicklungsländern etablierten. Auch wenn die wenigsten nationalen Erlasse die Namen der Akteure trugen, wie dies zum Beispiel beim bekannten britischen «BeveridgeReport» der Fall war, so waren deren Inhalte dennoch durch die beteiligten Experten geprägt. Die internationale Vernetzung gelang mitunter dadurch, dass die epistemische Gemeinschaft klein und übersichtlich blieb und die Experten sich untereinander kannten und ihre Organisationen jeweils an Kongressen und Austauschplattformen der anderen Institutionen vertraten.

Die international vernetzten Versicherungsmathematiker setzten zunächst in den ersten Nachkriegsdekaden viel Hoffnung auf keynesianische Ansätze, um konjunkturpolitische Instrumente mit wirtschaftspolitischen Zusammenhängen und politischen Prozessen zu verknüpfen. Sie erkannten aber bereits früh, dass dies wegen der steigenden Gesundheitskosten und der krisenhaften Wirtschaftsentwicklung nicht gelingen würde. Ab Ende der 1960er Jahre musste der keynesianische Ansatz zusehends einem nationalstaatlich geprägten Diskurs weichen, der den Spardruck thematisierte und die Sozialversicherungen aus einer ausschliesslich ökonomischen Logik betrachtete. Im Zuge dieses Perspektivenwechsels griffen die Sozialversicherungsexperten wieder auf die hergebrachten klassischen Konzepte aus der Zwischenkriegszeit zurück, die auf eine kontinuierliche technische Verbesserung der sozialstaatlichen Instrumente ausgerichtet waren.

In der Weltwirtschaftskrise Mitte der 1970er Jahre waren die Finanzierung der Sozialversicherungen, die Inflation und der Anstieg der Gesundheitskosten die dominanten Themen in den internationalen Expertengruppen. Die Netzwerke erhofften sich neue Lösungsansätze durch internationale Kooperation, etwa mittels Optimierung mathematischer Modelle. Die Versicherungsmathematiker waren gefordert, ihre Berechnungen auf deren volkswirtschaftlichen Folgen abzustimmen. Stark im Fokus stand etwa die Frage, wie sich die Inflation auf die Renten auswirken würde. Am Beispiel der AHV in der Schweiz zeigt die Autorin, dass in den internationalen Netzwerken zwar valable Modelle ausgearbeitet wurden, diese aber zunächst nationale demokratische Prozesse durchlaufen mussten und oftmals mit konkurrierenden Expertisen innerhalb eines Landes konfrontiert waren. Die international erarbeiteten Lösungsvorschläge liessen sich in den nationalstaatlich organisierten Sozialversicherungssystemen lediglich in abgeschwächter und angepasster Form umsetzen.

Die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre zeigte weltweit die Grenzen des sozialstaatlichen Ausbaus auf. Die Autorin arbeitet differenziert heraus, wie unterschiedlich der Wes-ten, Osten und Süden auf diese Herausforderungen reagierten im Rahmen der sozialstaatlichen Regime einzelner Länder. Der internationale Diskurs der Versicherungsexperten deutete in dieser Zeit Krise nicht nur als ein Phänomen des Spardrucks, das es mit Konzepten aus der Betriebswirtschaftslehre zu bearbeiten galt, sondern begann auch die lückenhafte soziale Absicherung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen zu thematisieren. In dieser zweiten Perspektive kam zusehends die Soziologie zum Zuge, die neue gesellschaftliche Risiken erforschte.

Der Autorin gelingt es, die internationalen expertenschaftlichen Diskurse um soziale Sicherheit in die globalen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Nachkriegszeit einzubetten. Rückläufige militärische Konflikte und wirtschaftlicher Wohlstand ermöglichten es bis zur Wirtschaftskrise der 1970er Jahre, neue sozialstaatliche Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Seither etablierte sich die Vorstellung, dass sozialstaatliche Modelle der kontinuierlichen Weiterentwicklung bedürfen, um in einem gesellschaftlichen Umfeld des permanenten Wandels zu bestehen

Zitierweise:
Ramsauer, Nadja: Rezension zu: Guthörl, Milena: Die Mathematik des Sozialstaats. Internationale Expertennetzwerke der sozialen Sicherheit 1930–1980, Göttingen 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (1), 2022, S. 177-179. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00102>.

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